Bombenabwürfe im Gebiet Genf & Lausanne  - 11. / 12. Juni 1940

© by Patrick Schlenker 2011 / 2020

Die ersten Bomben des Krieges auf Schweizer Boden

Nach Italiens Kriegserklärung durch den faschistischen Diktator Benito Mussolini vom Balkon seines Regierungssitzes im Palazzo Venezia an der Piazza Venezia in Rom an Frankreich und Großbritannien am 10. Juni 1940, in der Endphase des deutschen Frankreichfeldzugs führte die Royal Air Force mit 36 britische Armstrong-Withworth Withley Mk. IV & V einen Angriff auf Italiens Rüstungskonzern FIAT bei Turin (Order 103) aus. Als Alternativeziele galten Genua, Mailand oder Savona. 

Wegen des 18 stündigen Hin- und Rückfluges mussten die Bomber auf den Kanalinseln Jersey und Cliffield-Guernsey zwischenlanden um betankt zu werden. Das Wetter über den Alpen war sehr schlecht und von Gewittern begleitet. Die in drei Wellen zusammengassten der Bomber der No. 4 Bomber Group hatten deswegen grosse Probleme das Ziel anzufliegen. Nur 11 der 36 Bomber bombardierten Ziele in und um Turin sowie zwei andere Withleys Ziele in Genua. Von den 23 Besatzungen, welche wegen dem zunehmend schlechten Wetter frühzeitig umgekehrt waren gaben acht an, ihre Bomben auf alternative Ziele abgeworfen zu haben.  Einen Teil davon, ohne ihr Wissen über Schweizer Territorium.

Armstrong Whitworth Whitley_1

Armstrong-Withworth Withley

Im Einsatz gegen Turin standen Bomber aus folgenden Squadron

No. 10 Bomber Squadron

Stationiert in Dishforth starteten zwischen 1403 und 1500 acht Armstrong-Withworth Withley Bomber des Geschwaders Richtung Guernsey. Zwischen 2014 und 2100 Start von Guernsey Richtung Turin. Auf dem Weg nach Guernsey musste F/O Parkin mit seiner Crew in Hucknall notlanden. Um 0231 kehrte der erste Bomber wegen schlechtem Wetter über den Alpen unter F/P Smith zum Stützpunkt zurück. Um 0308 folgte F/O Henry, um 0340 Sgt. Witt und um 0345 F/P French-Mullen landeten drei weitere Bomber, welche technischen Problemen (F/O Henry) oder schlechtem Wetter umgekehrt sind auf dem nord-Westlich von Dishford gelegenen Flugplatz Topcliffe. Über den ganzen Tag verteilt trafen weitere Bomber der 10 Squadron ein oder aber Meldungen, dass diese auf einem andern Flufplatz gelandet waren. Nur fünf Bomber gaben an, ihre Mission über Italien vollendet zu haben.

Sgt. Leslie Arthur Keast und seine Besatzung der Armstrong-Withworth Withley ZA-T (P4954) wurde in der Folge als vermisst gemeldet. Der Bomber war 6km nördlich von Abbeville (Somme) in Frankreich aus ungeklärten Gründen abgestürzt. Es war Sgt. Leslie Arthur Keast erster Flug als Captain eines Bombers. Mit an Bord waren P/O  David Frederick BRAHAM (72463), Observer Sgt. John Jacob MYERS (580910), Leading Aircraftman Raymond Robin Henry NUTTALL (624643) und Wireless Operator Sgt. James Mcdonald BLACK. Alle fünf fanden auf dem ABBEVILLE COMMUNAL CEMETERY EXTENSION die letzte Ruhe.

No. 51 Bomber Squadron

Sieben Armstrong-Withworth Withley des Typs Mk. IV und V der 51 Sqn. starteten zwischen 1420 und 1430 von Dishford nach Guernsey. Nach ihrer Landung nach 1700 hoben die vollgetankten Withley, mit Ausnahme der Withley P.4981, zwischen 2015 und 2040 ab. Weshalb die von P/O Bisset geflogene Withley SDL 610 verspätet von Guernsey abhob ist nicht klar. Nur drei der sieben Armstrong-Withworth Withley gaben an die FIAT Werke bei Turin bombadiert zu haben. Die Armstrong-Withworth Withley P.4984, Pilotiert von Sgt. Deacon, P.4986, Pilotiert von Sgt. Denny und P.4970, geflogen von P/O Oettle.

F/L Budden, Withley P.5982, gab nach seiner Rückkehr an, das Primärziel (Turin) nicht identifiziert und selbst eines bestimmt zu haben. Um 0207 warf er eine 500 Pfund und drei 250 Pfund aus einer Höhe von 8'000 Fuss ab. Konnte dabei keine Wirkung erkennen. Weiter gab er an um 0212 den Rest seiner Ladung auf den Rangierbahnhof von Turin abgeworfen zu haben.

F/O Bissett, welcher schon später als der Rest der Squadron von Guernsey war, gab an grosse Probleme mit Vereisungen gehabt zu haben. Er entledigte sich seiner Bomben um 0100 über unbekanntem Gebiet. 

F/L Wildey, Withley P.4985 kehrte schon kurz nach seinem Einflug über Frankrech wegen Vereisungen seiner Triebwerke um und landete kurz vor Mitternacht wieder auf Guernsey.

Sgt. Tait und seine Besatzung mit der Withley P.4987 konnten das primäre Ziel in Turin nicht identifizieren und bombardierten den Bahnhof bei Turin um 0200 aus einer Höhe von 4'500 Fuss.

No. 58 Bomber Squadron

Von Linton-on-Ouse in North Yorkshire starteten am Nachmittag sechs Armstrong-Withworth Withley Mk. V Richtung Kanalküste um ebenfalls auf Guernsey aufzutanken. Zwischen 2010 und 2045 starteten die Bomber von Guernsey. Einzig die Withley N.1460, piloziert von McInnes warf seine Bomben auf das Ziel in Turin ab. die restlichen fünf Withley's brachen den Angriff wegen technischer Probleme und Vereisungen vorzeitig ab. 

Zwei von ihnen, Withley N.1461 F/O Walker und Withley N.1444 Sgt. Bord, entluden ihre Bomben über dem "Safe" über dem Kanal. 

Sqn/Leader Hallam gab nach seiner Rückkehr an, dass sein vereisser ausgefallen wäre und er den Angriff deshalb abgebrochen hatte. Seine Bomben warf er nördlich der Schweiz ab. 

Die von Sgt. Rast geflogene Withley N.1436 kehrte ebenfalls wegen Triebwerksproblemen um und brachte die ganze Bombenlast mit zurück. 

No. 77 Bomber Squadron

Die 77 Sqn. war seit 1938 in Driffield staioniert und startete von dort aus mit acht Armstrong-Withworth Withley Mk. V zu ihrer Mission nach Turin. Ihre Zwischenlandung fand auf Jersey statt, von wo die Bomber ab 20:00 in die Luft stiegen. Die zurückkehrenden Besatzungen meldeten sehr schlechtes Wetter mit Gewittern über 10'000 Fuss.

F/O Eno mit der Whitley N.1390 meldete Triebwerkprobleme und kämpfte mit gefrorenen Instrumenten und Technik. Über dem Zielgebiet gab es starkes Luftabwehrfeuer und vereinzelnd Suchscheinwerfer.

F/O Marks mit der Whitley N.1365 kehrte wegen Triebwerkproblemen um und landete sicher wieder auf Jersey, während P/O Stenhouse, Whitley N.1367 seine Bomben über dem Kanal entlud und ebenfalls nach Jersey zurückkehrte.

Pilot Sgt. Norman Martin Songest (580330) mit der Whitley KN- (N.1390) sowie der Besatzung angehörige Wireless Operator Sgt. Ronald Charles ASTBURY (630781), Leading Aircraftman Sgt. Philip Henry James BUDDEN (742113), Observer Sgt. Alexander FINDLAY (749540)  und Radio Operator Sgt. Edward Ombler (633791) stürzten auf dem Rückflug um 22:30 Uhr brennend in der Nähe von Lignières-Orgères (Mayenne) 10 km nördlich von Pre-en-Pail / Frankreich ab. Ihre sterblichen Überreste liegen auf dem LIGNIERES-ORGERES COMMUNAL CEMETERY.

No. 102 Bomber Squadron

Auch die 102 Sqn. war in Driffiled stationiert und brachte sieben Armstrong-Withworth Withley Mk. V in die Luft. Auch hier wurde nach der Rückkehr sehr schlechtes Wetter, vor allem über den Alpen gemeldet. Nur zwei Besatzungen, Sgt. F.G. Tizard Withley N.1528 und Sgt. R.W.P. Mc Farland konnten das Ziel in Turin bombardieren. Eine Besatzung gab zu Protokoll, nördlich von Amiens zwei 500 Pfund und sechs 250 Pfund Bomben auf eine Reihe von Häusern und einer dreiteiligen Strassengabelung abgeworfen zu haben. Zwei weitere Withley's brachten ihre Bombenlast zurück auf den Stützpunkt. 

Sq/Ldr P. Beare mit der Kennung N.1471 code DY°R gab an, wegen schlechtem Wetter seine Bombenlast über den Alpen abgeworfen zu haben. 

Bombenbeladungen

Die Beladungen der Armstrong-Withworth Withley Mk. IV und V bestanden in der Nacht gemäss Operation Record Books der eingesetzten Squadrons jeweils aus 500 Pfund 250 Pfund Bomben. Wobei zum Beispiel die 51 Sqd. und 58 Sqn. ihre Armstrong-Withworth Withley zwei Sticks mit einmal vier 500Pfund und einmal sechs 250Pfund Bomben belud und die 102 Sqd., ebenfalls mit zwei Sticks ,mit einmal zwei 500Pfund und den zweiten Stick zu sechs 250Pfund Bomben. 

 

Abwürfe auf Schweizer Gebiet

Daillens

Um 0115 explodierten die ersten sechs Bomben des 2. Weltkrieges auf Schweizer Boden auf einem Feld in der Nähe von Daillens, 10km nördlich von Lausanne. Mit grosser Wahrscheinlichkeit stammten die Bomben von F/O Bissett's Whitley der No 51 Sqn.

Renens

Zehn Minuten später, um 0125 schlugen weitere sieben Bomben bei Renens, in der Nähe von Lausanne ein. Frau Irénée Cocconi, welche mit ihrem Mann in einem Wohnwagen aufhielt kam dabei ums Leben. Ihrem Mann wurde der Fuss weggerissen. Beim Bahnhof Renens, in der Nähe des Grand Hotels wurde Jules Müller durch Bombensplitter in seinem Bett getötet. Sieben weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Die Besatzung dürfte Renens für Genua gehalten haben, da der Bahnhof ähnliche Anschlüsse aufwies und der Ort ebenfalls nahe an einem See lag.

Genf

Kurz vor 0145 schlugen in Genf bei Champel, Plainpalais und dem dazumal wenig bebauten Carouge eine Reihe von sechs Bomben ein (Abb. 1) Der oder die Bomber hatten zuvor schon eine Dreiviertelstunde über dem Gebiet gekreist um seine genaue Position zu bestimmen.  

Die 1. schlug auf dem Grundstück der Villa an der 5, Chemin Venel in Genf ein. Sämtliche Fensterscheiben zerborsten dabei, wie auch alle Türen innen und aussen. Wie durch ein Wunder, wurde von den sieben Bewhnern niemand verletzt.

Die 2. Bombe explodierte beim Hotel und danebenliegenden Krankenhaus von Beau-Sejour. Im Hotel waren viele Soldaten untergebracht und in einem Nebengebäude eine grössere Anzahl an Munition. Soldat Fernand Chollet von der Territorialkompanie V / 122 wurde dabei tödlich verletzt. Zwei Tage später erlagen auch Oberleutnant Wadell und Korporal Roeck ihren Verletzungen, welche sie sich zugezogen hatten.

Als die Kirchenglocken genau 0145 schlugen, wachte Pierre Meyer unter Geröll und Schutt in seinem Schlafzimmer auf. Die 3. Bombe fiel auf Chemin de la Roseraie in der Nähe der Villa von Herrn Senn. Die Expolsion machte das Gebäude unbewohnbar und zerstörte die Villa "Les Clématites" von Pierre Meyer vollständig. 

Eine 5. Bombe fiel bei Chemin des Croisettes vor ein Mietshaus. Die Strasse davor war danach mit Scherben übersäht. Sämtliche Fenster wurde durch die Expolsion zerstört und alle Fensterläden abgerissen.

Eine 6. Bombe fiel auf ein Grundstück an der Rue de la Ferme. Dort wurde Frau Julia Escher, 35 Jahre alt, durch herumfliegende Splitter und Trümmer tödlich verletzt. Sie war durch den Flugzeuglärm aufgewacht und hatte sich auf den Balkon begeben.

Die 7. Bombe explodierte in der Arve, stromabwärts der Carouge-Brücke. Dabei wurde eine grosse Gasleitung aufgerissen, die entlang der Brücke verlief und fing Feuer.

Die 8. und letzte Bombe traf die Rue des Allobroges und verursachte ebenfalls hohen Sachschaden.

Bomben auf Genf_1

Abb. 1 - Einschlagserie von rechts nach Links von zwei 500 Pfund und vier 250 Pfund Bomben im Gebiet von Genf und Carouge -  Karten-Quelle: Bundesamt für Landestopografie swisstopo - überarbeitet von The ROYAL AIR FORCE over Switzerland 1940-1945 2020

 Zudem wurde durch eine weitere Bombe eine Villa erheblich beschädigt. 

Insgesamt starben in Genf in dieser Nacht 5 Personen. Dazu gab es 6 schwerverletzte Frauen und etwa 20 leicht verletzte, welche innerhalb von 2 Tagen das Krankenhaus verlassen konnten.

Wie auch die Bomber, welche bei Rennens ihre Bombenlast abgeworfen hatte, hielt die britische Besatzung wahrscheinlich Genf für Genua.

Gemäss Recherchen des Historikers Roger Antoine zu seinem Buch "Infringing Neutrality: The RAF in Switzerland (1940–45)" flog der Bomber nach dem Abwurf weiter über Cologne, Nordwestlich von Genf eine Schleife und lies dabei weitere Bomben auf den Bahnhof von La Praille fallen. Verfehlte diesen jedoch um gut 1,5 Kilometer.

Im Nachgang der Ereignisse wurde Kritik von der Bevölkerung laut, da erst 10 Minuten nach den ersten Abwürfen in Genf Fliefgeralarm ausgelöst wurde.

Welche Besatzung entlud seine Bomben über der Schweiz?

P/O Bisset's Whitley der No. 51 Squadron könnte einer jener Piloten gewesen sein, die als erste des Krieges Bomben auf Schweizer Hohheitsgebiet, in der Nähe von Daillens abgeworfen hatte. Die unterstreichen auch die Recherchen des Historikers Roger Antoine und die Aufzeichnungen aus den Operation Record Book der No. 51 Sqn.

Weitere Piloten die ihre Bomben über Schwizer Gebiet abgworfen haben könnten ist Sq/Ldr P. Beare von der No. 102 Squadron. Das ist aber nur eine Vermutung, da Sq/Ldr P. Beare im Operation Record Book nur angab, seine Bomben über den Alpen abgeworfen zu haben. Eine Zeitangabe fehlt dazu.

Ein weiterer Pilot könnte auch F/Lt Tony O'Neill von der No. 58 Squadron. Aus dem dem Operation Record Book zu nur entnehmen, dass F/LT Tony O'Neill den Angriff abgebrochen und sich der Bomben entledigt hatte. Weder wo ungefähr noch wann genau.

Obschon der Autor sämtliche 36 Besatzungen identifizieren konnte, ist es nicht abschliessend zu sagen, welche Besatzungen für den Abwurf genau verantwortlich waren. Einzig P/O Bisset's Rückmeldungen liessen Schlüsse auf den genauen Zeitpunkt zu.

 

Quellen

Roger Antoine "Infringing Neutrality: The RAF in Switzerland (1940–45) 

Operation Record Books Royal Air Force 

The National Archives

Pionnair-GE - Jean-Claude Cailliez

Bundesamt für Landestopografie swisstopo

PRE - Archives d'Etat